Hannover. In den Mergelgruben in Anderten liegen im weichen Gestein zahllose Belemniten – pfeilförmige Überreste urzeitlicher Tintenfische. Gemeinsam mit Schüler*innen der Oberschule Pestalozzischule Hannover sucht das Künstler*innen-Kollektiv Art Ashram am 21. Juni nach diesen Fossilien und setzt sich im Anschluss mit Fragen um ihre Herkunft, Form und Bedeutung für die Zukunft auseinander. In zwei Projekttagen sammeln und entwickeln Schüler*innen und Künstler*innen gemeinsam Formen der Überlieferung, die mit einem selbstgebauten Schiff zur Kunstausstellung documenta fitfeen nach Kassel reisen und dort präsentiert werden. Das Kulturbüro Misburg-Anderten unterstützt das Projekt.
Die Skelette früherer Kopffüßer sind für Art Ashram Ausgangspunkt für eine Befragung des Anthropozäns, das „Zeitalter des Menschen“. Ziel ist es, eine junge Generation für die Einwirkung des Menschen zu sensibilisieren. Was ist Mergel und wofür wird er gebraucht? Wie können wir uns die Zeit vorstellen in der die gefundenen Fossilien noch gelebt haben? Produziert unser Wohlstand und der Wunsch nach Mehr die Fossilien von morgen?
An zwei Projekttagen bearbeiten die Schüler*innen die steinernen Hülsen bildnerisch und literarisch. Vor Millionen von Jahren lebten die gesammelten Versteinerungen unter Wasser und waren Weichtiere, den Kalmaren ähnlich. Mit den Auswüchsen prähistorischer Tintenfische in den Händen entsteht eine Fantasie dafür, was wir heute bewahren wollen, für das, was den Menschen überdauert. Es wird sich um Objekte handeln, die Heilung versprechen, Waffen dekonstruieren, Tierwesen imitieren, Objekte, die zwischen Organischem und Anorganischem changieren, die unseren Umgang mit Ressourcen kritisch und spielerisch widerspiegeln.
Das Ergebnis der Kunstaktion wird Ende Juni an der Schleuse Anderten an Bord eines Schiffes gehen. Das schwimmende Kunstprojekt des Zentrums für Kunst und Urbanistik Berlin (ZK/U) „citizenship – Vom Dach zum Boot!” nimmt das Fossilien-Kunstwerk aus Anderten mit auf seine ressourcenschonende Wasserreise nach Kassel zur documenta fifteen.
Ankunft auf der documenta fifteen in der Futur Fossil Factory
Auf der documenta angekommen, werden die Arbeiten der Schüler*innen Teil der internationalen Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst und erzählen über das Boot und seine Reise. Die verspielten Formen der Schüler*innen bilden das Pendant zu der seriellen Produktion in der „Futur Fossil Factory“. An der Anlegestelle betreibt Art Ashram eine Pop-Up-Küche, in der Belemniten aus Mergel produziert werden. Stoffhüllen, groß wie menschliche Körperteile, werden kollektiv mit Mergel gefüllt und gepresst. Die feuchten Rohlinge werden von Besucher*innen auf ein schillerndes Display gelegt. Die vergrößerten Rostren mutieren allein durch diesen Transport zu neuen Wesen: den Futur Fossils. Dazu Art Ashram: „Im Zentrum steht die Formauflösung eines Gegenstandes, der brennglasartig die Problematiken des Anthropozäns in sich vereint. Wir bilden eine Versuchsanordnung um zu verstehen, was den Menschen zum planetarischen Gestaltenden macht und wie die Transformationskraft auf das System Erde als Individuum im Kollektiv zum Tragen kommt.“
Allein das „citizenship“ ist ein Kunstwerk
Der Versammlungs- und Veranstaltungsort des ZK/U ist die ehemalige Lagerhalle des Güterbahnhofs, mit einem aufgeständerten hölzernen Satteldach. Demontiert und um 180 Grad gedreht, wurde das Dach zu einem Boot umgebaut — der schützende Unterstand wird zum widerstandsfähigen Schwimmkörper. Dieses mit Ideen und Impulsen aufgeladene Dach wird als Beitrag des ZK/U in das documenta fifteen eingebracht – metaphorisch und konkret zugleich. In einer mehrwöchigen Reise vom angrenzenden Westhafen in Berlin wird das Boot auf Flüssen und Kanälen (Havel, Mittellandkanal, Weser und Fulda) quer durch die mitteldeutsche Landschaft gerudert und sammelt Kunstprojekte: ein schwimmendes künstlerisches Forschungsprojekt auf dem Weg zur documenta fifteen.
Für The Future Fossil Factory kooperiert das Künstler*innen-Kollektiv Art Ashram, in der Besetzung aus Klara Adam, Nelli David, Markus Zimmermann und Florian Dietrich, mit der Bildenden Künstlerin Verena Seibt und der Autorin und Dramatikerin Sina Ahlers. Das Kulturbüro Misburg-Anderten unterstützt das Projekt vor Ort in Hannover.
Die documenta fifteen findet vom 18. Juni bis 25. September in Kassel statt und wird vom indonesischen Künstler*innen-Kollektiv ruangrupa kuratiert.