Immer mehr Kinder und Jugendliche suchen Hilfe bei LWL-Transgenderexpertin Dr. Agnes Grohnfeldt
Marl-Sinsen (lwl). „Ich fühle mich gefangen im falschen Körper“, diesen Satz hört Dr. Agnes Grohnfeldt häufig. Die Fachärztin arbeitet in der Coesfelder Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). 150 junge Menschen, die sich mit dem ihnen von Geburt an zugewiesenen Geschlecht unwohl fühlen, sogenannte Transgender, hat sie schon beraten und teilweise therapeutisch begleitet. Dabei zeigt sich ein klarer Trend: Die Zahl der Hilfesuchenden steigt. Waren es vor fünf Jahren noch 10 sind es mittlerweile bis zu 40 Jungen und Mädchen, die sich pro Jahr mit ihren Sorgeberechtigten auf den Weg nach Coesfeld machen. Einen möglichen Grund für diesen Anstieg sieht Grohnfeldt darin, dass Transgender mittlerweile häufiger in den Medien thematisiert wird.
Hinter dieser Zahl verbergen sich Einzelschicksale wie das von Max (Name geändert), der als Mädchen zur Welt gekommen ist. Bereits im Kindergarten hat der heute 17-Jährige deutlich gezeigt, dass er sich zu seinen männlichen Altersgenossen zugehörig fühlt. Fußballspielen und sich mit den anderen Jungs sportlich messen, das war sein Ding. In seiner Schulzeit häuften sich Konflikte, denn Max wollte sich nicht in das klassische Rollenbild einfügen, verweigerte die Teilnahme am Sportunterricht. Ganz schlimm wurde es zu Beginn der Pubertät, als das Wachstum der Brüste begann und die Regelblutung einsetzte. Max entwickelte einen regelrechten Hass auf seinen Körper. Er begann, sich die Brust mit Frischhaltefolie abzubinden, trug nur noch weite Shirts und einen Kurzhaarschnitt. So hielten ihn jetzt manche Menschen für einen Jungen. Aber gegen die monatliche Blutung konnte er nichts ausrichten. Und auch nicht gegen seine weibliche Stimme. Deshalb zog Max sich immer mehr zurück, vermied es, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Seine Eltern machten sich zunehmend Sorgen und suchten gemeinsam mit ihrem Sohn, damals noch im Geschlecht eines Mädchens, die Transgender-Spezialsprechstunde in Coesfeld auf.
Dr. Grohnfeldt, was bedeutet der Begriff Transgender genau?
Agnes Grohnfeldt: Transgender meint, dass sich eine Person nicht mit dem ihr von Geburt an zugewiesenen Geschlecht identifizieren kann. Dann fühlt sich zum Beispiel ein Mädchen, mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen, als Junge. Bleibt dieses Gefühl über einen langen Zeitraum, spricht man von einer Körper-Geschlechts-Inkongruenz.
Ist Transgender eine Erkrankung?
Agnes Grohnfeldt: Nein, der Eindruck, in einem falschen Körper festzustecken, ist an sich keine Erkrankung. Dieses Gefühl kann zum Beispiel als Ausdruck einer Reifungsverzögerung in der Pubertät auftreten. Dann, wenn die Heranwachsenden emotional noch gar nicht bereit für körperlich einschneidende Veränderungen, wie das Wachstum der Brüste oder den Beginn des Bartwuchses sind. Auch gibt es Fälle, wo Eltern sich sehnlichst ein Mädchen gewünscht und stattdessen einen Sohn bekommen haben. Dieser wird dann wie eine Tochter behandelt und manchmal sogar so angezogen. Dass das zu Identitätsproblemen führen kann, ist wohl klar. Solche Gefühle „wachsen“ sich aber meistens mit der Zeit aus. Das ist bei etwa 50 Prozent meiner jungen Patienten der Fall. Eltern akzeptieren ihren Nachwuchs als das, was er oder sie ist, und junge Mädchen oder Männer gewöhnen sich an ihre körperlichen Veränderungen. Bei Transgender-Menschen zeigt sich diese Problematik auch häufig mit der Pubertät und der damit körperlichen Veränderung. Aber sie fühlen sich dauerhaft im falschen Körper. Mit der Zeit baut sich ein immenser Leidensdruck bei den Betroffenen auf. Es kommt zu einer sogenannten Geschlechtsdysphorie, wie im Beispiel von Max.
Weshalb wenden sich die Betroffenen an Psychologinnen oder Psychiater?
Agnes Grohnfeldt: Weil dieser Leidensdruck in vielen Fällen zu psychischen Erkrankungen führt. Die jungen Menschen hassen nicht nur ihren Körper, sondern sich selbst als Menschen, sie verletzen sich. Entweder, um sich der unpassenden Geschlechtsmerkmale zu entledigen, sich zum Beispiel den Penis abzuschneiden, wie es einer meiner Patienten versucht hat, oder aber, um dem enormen psychischen Druck zu entkommen, der sich aufgrund der Geschlechtdysphorie in ihnen aufbaut. Manche entwickeln eine Essstörung oder werden sozialphobisch. Das bedeutet, sie meiden andere Menschen, weil sie sich unsicher fühlen. Im schlimmsten Fall tragen sich die Betroffenen irgendwann mit Selbstmordgedanken.
Was passiert in der Transgender-Sprechstunde?
Agnes Grohnfeldt: Zuerst einmal versuche ich herauszufinden, ob ich es mit einem „echten“ Transgender-Menschen zu tun habe, ob die erwähnte Reifungskrise oder ein erlittenes Trauma dazu geführt hat, dass sich ein Patient in seinem Körper nicht mehr wohl fühlt. Wichtig ist auch zu schauen, ob sich durch die Geschlechtsdysphorie eine andere psychische Erkrankung wie eine Depression oder Sozialphobie entwickelt hat. Diese Erkrankungen müssen natürlich behandelt werden. Ist der junge Mensch dann stabil genug, begleite ich ihn oder sie therapeutisch auf dem Weg, der unter Umständen zu einer dauerhaften Geschlechtsumwandlung führt, die auch von den Krankenkassen bezahlt wird.
Welche Schritte führen zu einer Geschlechtsumwandlung?
Agnes Grohnfeldt: Das kann ich gut am Fall von Max erklären: Zuerst muss der oder die Betroffene sich outen und ein Jahr lang ein Leben im erwünschten Geschlecht führen. Das nennt man Alltagserprobung. Max hat in dieser Zeit als junger Mann gelebt, sich entsprechend gekleidet und verhalten. So konnte er testen, ob diese Lebensweise als Mann wirklich seinen Vorstellungen entspricht. Danach entscheidet ein Kinderendokrinologe, also ein Facharzt im Bereich Stoffwechsel und Hormone, ob die körperlichen Voraussetzungen für eine medikamentöse Pubertätsblockade gegeben sind. Diese ist bei Max erfolgt. So wurde sein Körper nicht zunehmend weiblicher und die Regelblutung blieb aus. Der nächste Schritt ist die Verordnung gegengeschlechtlicher Hormone. Dies geschieht natürlich ebenfalls erst nach medizinischer und psychologischer Abklärung. Bei Max führte die Gabe von Testosteron wie gewünscht dazu, dass seine Stimmer tiefer wurden, er an Muskelmasse zunahm und der Bartwuchs einsetzte. Für Max ist das eine immense Erleichterung. Der finale Schritt wäre jetzt eine entsprechende Geschlechtsangleichung im Rahmen einer OP. Das ist aber erst mit dem Erreichen der Volljährigkeit möglich. Bis dahin genießt der 17-Jährige erst einmal seine neu gewonnene Lebensqualität.
Hintergrund
Dr. Agnes Grohnfeldt ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die 41-Jährige hat sich auf das Gebiet „Transgender“ spezialisiert. Seit 2015 leitet die Medizinerin die Transgender-Sprechstunde in der Ambulanz der LWL-Tagesklinik Coesfeld für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, die der LWL-Klinik Marl-Sinsen angeschlossen ist.