Ostwestfalen/Lippe: Was großflächig im Osten Deutschlands bereits stattfindet, zieht sich wie ein Keil bis ins Ruhrgebiet.
Dabei werden ebenfalls die Gebiete der Kommunen von Petershagen, Hille und Porta erfasst und es wirkt nachdrücklich auch auf die Kreisstadt Minden, deren Hinterland sich entleert. Der demografische Wandel, die Strukturveränderungen und die wirtschaftlichen Auswirkungen haben bereits vor Jahren begonnen und werden nun endlich wahrgenommen, weil Leerstand von Gebäuden, Wegzüge, Überalterung und Bevölkerungsrückgang nicht mehr zu übersehen sind. Das hat gravierenden Folgen weit in die Zukunft hinein, denn die Infrastruktur bricht weg und hinterlässt eine entleerte Landschaft. Landflucht und Konzentration auf einzelne Stadtstandorte führt zu vereinzelten Wachstumsregionen und Stadtkonzentrationen während das Hinterland verödet. Seit Jahren wurde im ländlichen Raum die Infrastruktur abgebaut und durch die Zersiedelung der Landschaft statt der Konzentration auf verdichtete Wohnstandorte wurde der Zerstörung der Infrastruktur Vorschub geleistet. So wurden Einrichtungen zur Nahversorgung unrentabel und das Auto blieb die einzige Verbindung der Bewohner des Landes mit der Restbevölkerung und den zentralen Versorgungseinrichtungen in den Einkaufszentren.
Auf das falsche Auto gesetzt
Auch innerhalb der Städte fanden Konzentrationsprozesse statt, so dass kleine Ladenflächen zunehmend zu Gunsten großflächigen Einzelhandels verschwanden und die Innenstädte verödeten. In der Stadt Minden gibt es somit zur Zeit keinen einzigen Lebensmittelladen in der Innenstadt. Die Bewohner müssen schon mehrere Kilometer fahren, um Lebensmittel einkaufen zu können. Man setzte vollständig auf das Auto und die Politik ließ den Großflächigen Einzelhandel vor der Stadt zu, der letztlich nur mittels Auto zu erreichen ist. Damit der Verkehr ausreichend fließen kann, wurde die Stadt angepasst an die Märkte und Geschäftsinteressen großer Betreiber, statt auf das zu setzen, wofür die Städte gemacht waren, nämlich das Wohnen. Das führte kurzfristig zur Stadtflucht auf das Land, da dort die Verkehrsverhältnisse überschaubarer, die Benzinpreise moderat und die Grundstücke preiswerter waren. Alles war auf das Auto ausgerichtet und das Verschwinden dieses antagonistischen Marktinstrumentes durch den verteuerten Kosten- und Zeitfaktor ließ auch das Modell der beliebigen Mobilität zusammen brechen.
Das Auto als dominante Infrastruktur
Mit dem Anstieg der Fahrzeugkosten, des Zeitfaktors und der Altersstruktur wurde das Auto immer mehr zum Risiko, denn einerseits konnten sich die Familien nicht mehr mehrere Fahrzeuge leisten, die auf dem Land die einzige Verbindung darstellen und andererseits trauten sich ältere Menschen das Autofahren nicht mehr zu. Die fehlende Versorgung und fehlende Arbeitsplätze auf dem Land erfordern zusätzlich immer mehr Zeit, da alles mit dem Auto aus größer werdenden Entfernungen herangeschafft werden muss und die Wege für Kultur und Beruf immer länger werden. Wer es sich also leisten kann, verlässt das Land.
Menschen folgen der Arbeit
Dem voraus ging und geht zusätzlich die Verlagerung, Veränderung und der Abbau von Arbeitsplätzen. Die Unternehmen siedeln sich immer mehr in einzelnen Schwerpunktregionen und vorherrschend im Süden von Deutschland an. Die Menschen folgen dieser Arbeit, so wie sie es schon immer gemacht haben. Wer studiert, kommt nicht mehr zurück in die strukturschwachen Gebiete, und wer wo anders einen Job bekommen kann geht auch. Zurück bleiben die Alten, die Arbeitslosen, die Verwaltungsangestellten und Lehrer, soweit sie da noch gebraucht werden.
Preisverfall
Mit der Landflucht, dem Rückgang der Bevölkerung und dem dadurch bedingten Überangebot an Immobilien einher geht auch deren Wertverfall. Im Stern Nr.34/2008 wurde bereits schon 2008 auf die Folgen dieser Entwicklung hingewiesen. Unter den Titel:“Käufer – dringend gesucht!“ wurde ein Prognoseatlas veröffentlicht, der verdeutlichte wie sich der Wertverfall der Immobilien von Mecklenburg Vorpommern bis ins Ruhrgebiet hinein entwickelt. „In weiten Teilen Deutschlands brechen die Preise für Immobilien ein. Und in manchen Regionen werden Häuser regelrecht verramscht“, berichtete die Zeitschrift Stern.
Stadtverfall
Das hat auch Folgen für den Zustand ganzer Ortsteile und Kleinstädte. Mangels Nachfrage fallen die Mietpreise und es fehlt das Geld für Investitionen. „Wenn man bedenkt, dass im Kreis Minden -Lübbecke seit ca. 20 Jahren die Mieten fast nie gestiegen sind, hingegen sich die Kosten für Material vervierfacht und für Lohn verdoppelt haben, ist es kein Wunder, wenn die Sanierungs- und Renovierungsarbeiten in der bestehenden Gebäudesubstanz lange unterblieben sind, da die Mieteinnahmen faktisch immer weiter zurück gegangen sind. Inzwischen liegt der Mietpreis in Minden durchschnittlich bei 4,50 €/m², was einen weiteren Rückgang verdeutlicht,“ erläutert der Geschäftsführer von der Fa. Konzept Immobilien GmbH in Minden, Gerd Ksinsik. Die Investitionen in Immobilien werden somit immer riskanter, da die Vermietfähigkeit durch das Überangebot an Wohnungen immer weiter abnimmt. Indikator sind auch die die vielen Leerstände, insbesondere in den Wohnblöcken, so dass die Immobilieneigentümer trotz Mietenrückgang inzwischen gezwungen sind, in die Sanierung zu investieren, da ansonsten sogar die Unvermietbarkeit droht.
Politikversagen
Diese ganze Entwicklung kommt nicht überraschend sondern wird nur plötzlich deutlich. Die Daten waren bekannt und trotzdem haben die meisten Gemeinden diese ignoriert und so weiter gemacht wie bisher. Es wurden zunehmend Baugebiete ausgewiesen, obwohl in den Innenstädten viel alte Bausubstanz auf eine Sanierung wartete.
Es waren die Bauträger, die mit Hilfe der Politik natürlich lieber ihre Neubauten auf der freien Fläche kalkulierbarer errichteten und dann gewinnbringend veräußerten. Es waren die Landwirte, die ihre Grundstücke der Politik anboten mit der fadenscheinigen Begründung, den Wegzug der einheimischen Bevölkerung damit stoppen zu können. Es wurden so Flickenteppiche von Bauflächen geschaffen, die viele Dörfer mit Unterdörfern versahen, die beliebig in die Landschaft gebaut wurden, nur weil der Landwirt durch den Verkauf seiner Flächen sich seine Ackerkrume vergolden ließ. In der Peripherie der Städte entstanden Satellitenstadteile, die die Innenstädte ausbluteten. Das führte zur Zersiedelung statt zu Konzentrationsflächen, wo sich vielleicht noch eine fußläufige Infrastruktur hätte bilden oder erhalten können. Dadurch bedingt verteuerten sich die Infrastrukturen wie z.B. Wasserleitungen, Kanäle und Straßen, die unnötig weit zu den Gebieten geführt werden mussten und nun kostenintensiv unterhalten werden müssen.
Insgesamt alle Kommunen haben die sich anbahnenden Entwicklungen ignoriert und tun es heute noch. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung als Ratsmitglied in Petershagen: Die mehrfache Warnung vor weiteren Baugebieten, der Hinweis auf den sich anbahnenden demographischen Wandel und damit einhergehenden Rückgang der Bevölkerung bereits vor Jahren wurde als absurd von allen restlichen Ratsmitgliedern angesehen. Auch die Kenntnisgabe von Untersuchungsergebnissen über diese Entwicklung an die anderen Fraktionen wurde schlicht ignoriert und als unglaubwürdig eingeordnet.
Bauflächenausweisungen statt planvollem Stadtumbau
Statt eines frühzeitigen Stadtumbaus, eine vorausschauende Planung vorzunehmen, wurden weitere Baugebiete ausgewiesen und werden es immer noch. Teilweise sind diese seit Jahren nicht vollständig bebaut und darüber hinaus bilden sie eine Konkurrenz zu den Kernorten, wo die Altbausubstanz zerfällt und dann ohne Rücksicht auf Identität abgerissen wird. Damit vergibt man sich dann der letzten Chance, den vorhandenen Tourismus zu nutzen, der schöne Gebäude und Stadtbilder voraus setzt und die Möglichkeit des qualitativ höherwertigen Wohnens.
Statt dessen wird von den Politikamateuren in den Stadträten über Kaufkraftabfluss und Belebung der Stadt durch mehr Einkaufscenter schwadroniert, die nur bewirken, dass mehr Verkehr in die Stadt kommt, aber die Wohnqualität damit deutlich sinkt, Wegzüge verursacht werden und der Tourismus geradezu torpediert wird. Inzwischen zerfallen die Wohnbezirke, steigen die Schulden der Kommunen mangels Einnahmen und verfallen die Immobilienpreise. Für Stadtentwicklung ist kein Geld mehr da und der Zerfall fördert eine weitere Erosion der Bevölkerung und damit der Einnahmenstruktur.
Landflucht
Die Dörfer auf dem Land werden ihre Bewohner zunehmend verlieren und damit teilweise ihre Existenz. Schulen werden geschlossen, Läden sind schon größten Teils verschwunden und die Filialen der Banken sind auch bald nicht mehr da. Dieser Prozess gewinnt Tag für Tag an Dynamik. Eine wesentliche Ursache ist der Konzentrationsprozess im Einzelhandel (Märkte), der Verwaltungsstrukturen und der Arbeit. Die Entwicklung zu Schlaforten durch die Neubaugebiete, die fehlende Integration und der Rückgang der alten Dorffunktionen, der Landwirtschaft mit ihren Nebenerwerbsbetrieben, hatte die Orte zeitweise ohnehin nur künstlich vergrößert und verändert, was den Baugebietsausweisungen und den billigen Benzinpreisen in der Vergangenheit zuzuschreiben ist. Bereits mit der Demontage der Gleisanlagen beispielsweise der Mindener Kreisbahn in den 70ger Jahren von Minden über Petershagen nach Uchte und der Verlagerung der Mobilität auf das Auto begann schon der Abbau der Infrastruktur. Ohne die Neubauflächen und mit einer frühzeitigeren Sanierung der Stadtkerne wären die Städte heute besser dran. Bekanntlich war der Immobiliensektor bereits in den 80ger Jahren im Abstieg begriffen und die Preise im Keller. Nur durch die Grenzöffnung 1998 entstand ein kurzer Immobilienboom, der bereits nach 10 Jahren wieder abflaute. Nach Beseitigung der kurzfristigen Wohnungsknappheit sind wir wieder am Ausgangspunkt.
Ursache für Stadtsterben
Die Ursache zuvor und jetzt liegt nicht am angeblich fehlenden Konsumangebot sondern an den mangelnden Arbeitseinkommen, verbunden mit fehlenden anspruchsvollen Arbeitsplätzen und somit der fehlenden Nachfrage. Welche Firma wird sich freiwillig dort ansiedeln, wo wesentliche Infrastrukturmerkmale wie Kultur, Kunst, Musik, Gastronomie, schöne Stadtansichten, Bildungsmöglichkeiten und anspruchsvolle Einkaufsangebote fehlen? Irgendwie wohnen und sich ernähren reicht da nicht. Wo Unternehmen ansiedeln, bestimmt das Führungspersonal und das legt eben Wert auf die vorgenannten Merkmale. Ordentlich bezahlte Arbeit ist der wichtigste Schlüssel für eine erfolgreiche Entwicklung. Ohne Arbeit keine Bewohner, kein Konsum, keine Mieten, keine positive Entwicklung – bedeutet Zerfall. Das haben einige Städte in Ostdeutschland verstanden und ihre Stadt entsprechend umgebaut.
Beispiel Stadtumbau in Güstrow mit Planungskonzept
In Güstrow, ca. 30.000 Einwohner, sind inzwischen 65 Prozent der Häuser innerhalb von ca. 7 Jahren saniert. Die Güstrower Altstadt ist eine der schönsten in Mecklenburg. Der Stadtkern war in der früheren DDR einer von 19 Flächendenkmalen, aber im ursprünglichen Zustand DDR-typisch – grau und verfallen. Wo immer freilich saniert werde, seien die Wohnungen auch schnell vergeben, erzählt der 50 Jahre alte Bürgermeister in der FAZ vom 12.04.2010. Noch bis 2020, insgesamt also drei Jahrzehnte lang, wird die Sanierung dauern, berichtet die FAZ.
Wenn Privatbesitzer ihre Häuser nicht sanieren, werden sie mit einem Sanierungsgebot der Stadt belegt. Fehlt Ihnen das Geld für eine Sanierung, wird ihnen das Haus von der Stadt zum Verkehrswert abgekauft.
Güstrow hatte einen Bevölkerungsschwund von 25 Prozent zu verkraften. 15% aller Wohnungen standen leer. Inzwischen ist der Leerstand auf 2 bis 3% zurück gegangen. Die Stadt hat ein Entwicklungskonzept, das zusammen mit der Sanierung greift.
Güstrow heute lebt vor allem als Bildungsstandort. Es beherbergt u.a. eine Verwaltungsfachhochschule und ein Gymnasium für grüne Berufe, das ausgebaut wird zu einem Campus.
Denkmalschutz statt Abriss
Abgerissen wurden und werden in Güstrow nicht die alten klassizistischen Gebäude, wie die Stadt Petershagen das vor hat, sondern die moderneren Plattenbauten, weil keiner mehr in den Blocks wohnen will und Wohnqualität angesagt ist. Güstrow, so betont der Bürgermeister in der FAZ vom 12.04.2010, sei eine Stadt der kurzen Wege und von hoher Lebensqualität gerade für Familien. Die Kultur bringt Besucher und allein das Atelier des Künstlers und Bildhauers Ernst Barlach, das heute ein Museum ist, zählt jedes Jahr ca. 40 000 Besucher. Wenn Städte wie Minden überlegen, ihre Museen zu schließen, sie ihre Altstädte verfallen lassen, Petershagen seine Kulturdenkmäler abreißt und sich Ratsmitglieder sogar freuen, wenn diese abgefackelt werden, wie der Fraktionsvorsitzende der SPD Petershagen, müssen sie sich nicht wundern, wenn gerade die Menschen die Flucht ergreifen, die das Kapital und die Investitionen bringen würden. Es gibt genug positive Beispiele wie es anders laufen kann, man muss sie nur wahrnehmen wollen.