Mangelnder Respekt, fehlendes Mitgefühl und Erziehung

Wer glaubt, dass die Jugendprobleme mit mehr Kindergeld und schärferem Jugendknast zu regeln ist, weiß nicht, was an der Basis tatsächlich passiert.

Nachdem das Thema Schule und Wissensstand erst einmal abgehakt ist, wird im Rahmen von Wahlen das Jugendgewaltthema hervorgeholt, da es so schöne schlagkräftige Bilder liefert. Bei den letzten Wahlen mussten die Ausländer herhalten und nun ergibt sich ein herrlicher Mix aus beiden, da naturgemäß auch ausländische Jugendliche an Gewalttaten beteiligt sind. Dabei ist nicht einmal klar, welcher Anteil an allen Jugendstraftaten der durch ausländische Jugendliche ist.

 

Tatsächlich haben wir ein Gewaltproblem bei Jugendlichen und besonders eine Zunahme an Brutalität und Rücksichtslosigkeit.

 

Ausdruck dieser Entwicklung sind die Vorkommnisse auf der Straße, deren Existenz über die Medien in unser Wohnzimmer gelangt und zu Empörung führt, schon deshalb, weil die gezeigten und berichteten Gewalttaten so brutal und hemmungslos sind.

 

Was wir aber nicht sehen, sind die ganzen Gewalttaten, Vernachlässigungen und Herabwürdigungen, die in den Familien passieren und denen Kinder besonders ausgesetzt sind. Hier finden wir den Anfang allen Übels, der sich dann ausbreitet auf die Straße, wo die erfahrenen Wertvorstellungen weiter getragen werden auf andere und sich ausweiten zu einer gesellschaftlichen Lawine, die dann in den Städten zur Teilung in Slums und Nobelviertel, somit zu Oben und Unten und der Teilung der Gesellschaft führen.

 

Viele Großstädte wie Rio de Janeiro, Mexiko City oder fast jede beliebige Großstadt in der dritten Welt und zunehmend auch in den Industriestaaten haben Wohnviertel für Reiche, die abgeschottet sind vor der restlichen Außenwelt durch Zäune, Mauern und Wachdienste und deren Zutritt den Nichtprivilegierten verboten ist. Fahrten außerhalb dieser Areals sind nur mit gepanzerten Fahrzeugen und Leibwächtern möglich.
In deren Außenwelt, in den Slums, entstehen und sind eigene Gesetze und Wertvorstellungen entstanden, die das herrschende, gesellschaftliche Werte- und Rechtssystem nicht mehr akzeptieren.

 

Wie bereits 1994 in der US-amerikanischen Zeitschrift Atlantic Monthly in einem Essay des Soziologen Elijah Anderson über den Code of the streets beschrieben wurde, hat dessen Studie deutlich belegt, dass einerseits das Ausmaß der täglichen Gewalt oft von jungen Männern ausging, die gesellschaftlichen Minderheiten angehörten und die zugleich die wahrscheinlichsten Opfer wurden und andererseits es in Slums zwei Wertesysteme gibt, das der „Anständigen“ und das der Straße. Das Wertesystem der Straße beherrscht, obwohl nur eine Minderheit der Bewohner ein aggressives Gewaltsystem ausübt, die Regeln des Verhaltens im öffentlichen Raum, auch für die „Anständigen“ und die Kinder. Wer diese Regeln missachtet, riskiert Leben und Gesundheit, da die Aggressoren das als Angriff auf ihre männliche Ehre verstehen, als mangelnder Respekt. Diese meist jungen Männer verschaffen sich den Respekt, den sie in ihrer meist desolaten Familiensituation durch ständige Missachtung, Beleidigungen und Gewalt nie erfahren haben. Die wichtigste erfahrene Grundregel, die sie gelernt haben lautet: Gewalt geht vor Recht. Die praktische Konsequenz dieses Lernerfolges heißt dann, dass man Konflikte physisch angehen und schnell zuschlagen muss. Die Straße ist Sozialisationsagentur und die Clique der Gleichaltrigen ersetzt die Familie.

 

In Deutschland deutenden sich solche Probleme schon lange an und statt frühzeitig gegenzusteuern wurden seit über 20 Jahren ideologische Grabenkämpfe über Schulsysteme und Familienförderung geführt, statt auf die realen gesellschaftlichen Entwicklung einzugehen.

 

Nun schrecken alle überrascht auf, als ob nicht schon lange solche Entwicklungen bekannt wären. Dabei werden alte Wertsysteme weiter aufgeweicht, indem Schüler mit gerichtlicher Genehmigung Benotungen über Lehrer hauptsächlich im Internet vornehmen dürfen, wie bei www.spickmich.de, die noch relativ harmlos sind, aber bei anderen Seiten wie www.razyboard.com schon in die Vollen gehen, wenn gefragt wird, wer der Hasslehrer ist oder andere, wo ausgesagt wird, „der soll sterben“. Regelbrüche und Respektlosigkeit sind heute Standard an den Schulen und schon lange ist es so, dass sich die Lehrer dem Dilemma entziehen, indem sie Niveau durch Heraufsetzen der Noten hergestellt haben oder sich den Drohungen der Schüler durch Verbesserung der Note entzogen haben. Alles wurde in schülerorientierte Watte gepackt, wobei die Gymnasien sich noch die besten Schüler heraus gepickt und die ihnen nicht genehmen Schüler an die Real- und Hauptschulen zurück geschickt haben.

 

Aber auch die Gymnasien konnten sich trotz aller Abgrenzung der Gewalt und den Drogenproblemen nicht entziehen, wie ja tägliche Vorfälle belegen. Mitschüler werden misshandelt, getreten und geschlagen, um das dabei gefilmte Video anschließend ins Netz zu stellen.

 

Währen die Gymnasien ja noch die Schüler hatten bzw. haben, die gewisse Perspektiven haben, wurden diese in den anderen Schullaufbahnen immer geringer. Lehrstellen waren bei immer geringerem Angebot mit immer höheren Abschlüssen besetzt und für die unteren Ausbildungsgruppen blieb kaum etwas übrig. Hauptschüler müssen teilweise über 100 Bewerbungen schreiben, um überhaupt eine Antwort zu bekommen, und neben der zunehmenden Perspektivlosigkeit veränderten sich die gesellschaftlichen Erziehungsinstanzen.

 

Während es früher hieß, zu der Erziehung eines Kindes bedarf es eines ganzen Dorfes, haben heute andere diese Erziehung übernommen, die Straße und die Medien, weil der schleichende Prozess der immer erziehungsunfähiger werdenden Eltern gesellschaftlich nicht wahrgenommen wird und worden ist.

 

Heutige Eltern übernehmen ihr Wertsystem von Soapsendungen und Werbetexten, dass ihnen eine Parallelwelt vorgaukelt, die mit der Realität wenig zu tun hat.

 

Der Familienverbund ist aufgelöst, das Dorf nicht da. Wer soll ihnen sagen, dass Kindern Regeln brauchen, Respekt haben müssen, regelmäßig zu Schule gehen müssen, morgens eine Frühstücksschnitte haben müssen und regelmäßig Mahlzeiten. Wer sagt ihnen, dass man frühzeitig aufstehen muss, damit die Kinder pünktlich in der Schule sind. Woher sollen sie wissen, dass Fernsehen nicht für Hausaufgaben ein Ersatz ist und ebenfalls nicht die Beschäftigung mit den Kindern ersetzt. Sie wissen auch nicht, was sie den Kindern besonders in den ersten drei Jahren antun, wenn diese Fertignahrung erhalten, vollgequalmt oder angeschrien werden, Schläge statt Liebe erhalten, Spielzeug statt Spielzeit mit den Eltern. Sie sehen in der Werbung Ballerspiele, Gewalt und Krieg und die Kinder sehen mit.

 

Was sind die Werte die sie vermitteln und wie sollen die Kinder so zu Bürgern werden, mit denen die Politiker und Mitmenschen zufrieden sind?

 

Welche Werte werden sie ihren Kindern wieder vermitteln wenn sie ihre Kindheit überlebt haben? Eltern sind Vorbild und diverse empirische Untersuchungen belegen inzwischen, dass Erziehung in der ersten Jahren das Entscheidende ist. Programme, die erst später ansetzen, um die entstandenen Defizite zu beseitigen haben nur geringe Chancen. Wohn- und andere Umerziehungsprojekte haben Rückfallquoten von über 80%.

 

Auch wenn es sich nicht sehr optimistisch anhört, so belegen es letztlich die meisten Untersuchungen und Gespräche mit Sozialarbeitern vor Ort. Es gilt immer noch das alte Sprichwort: was das Hänschen nicht lernt, lernt der Hans nimmer mehr.

 

Wenn nun die Lösung der Parteien sich darin erschöpft, zum einen den Eltern mehr Geld zu geben und anderer Seits die sozialisationsmäßig verunglückten Jugendlichen noch früher in den Knast zu sperren, so verschärft sich die Situation eher als dass die Probleme gelöst werden. Der Schlüssel zur Änderung sind ausschließlich die Eltern und eine angemessene Kindererziehung, die vom Staat übernommen werden muss, wenn die Eltern dazu nicht mehr oder noch nie in der Lage sind oder waren.

 

Die behauptete Armut der Kinder, die letztlich auch zu den Jugendgewaltentwicklungen geführt haben soll, ist nicht eine finanzielle sondern inhaltliche und pädagogische.

 

Von Einzelfällen abgesehen, liegt es nicht an der Menge der Geldmittel sondern an deren Verwendung. Spricht man mit Sozialarbeitern, so wird von diesen bestätigt, dass mehr Geldmittel keinerlei Änderung der so genannten Kinderarmut bewirken wird. Es sind nämlich die Eltern, die die Kinderarmut verursachen, da sie das für die Kinder bestimmte Geld für sich verwenden. Alkohol, Zigaretten, Handy, Video, Fernseher, Auto, Schüssel usw. haben alles Vorrang vor den Interessen des Kindes. Der Umgang mit Geld, Sparen Einteilen und sinnvoll wirtschaften sind unbekannt.

 

Statt dessen ist das Geld schon Mitte des Monats oft aus. Spricht man mit den Verkäufern von Bäckerläden, so bekommt man bestätigt, dass besonders viele Kinder von Sozialhilfeempfängern sich morgens belegte Brötchen holen, die ein Vielfaches von denen kosten, die man selbst schmiert. Kochen ist für viele auch schon ein Fremdwort geworden, denn viele verstehen darunter nur noch Fertignahrung aufzuwärmen. Das ist natürlich die teurere Version von Kochen, wenn man davon überhaupt sprechen kann und die ungesündeste.

 

Solange man solche Verhalten nicht ändert, wird sich auch die Situation dieser Kinder nicht ändern. Wenn die Eltern nur vermitteln, wir wollen uns auch was leisten und die Kinder lernen, dass alles möglich ist auch ohne Arbeit, wieso sollen sie dann später einsehen, dass sie für das selbe Geld welches vom Amt kommt, arbeiten sollen. Darüber hinaus sind entgegen des allgemeinen Schlagzeilenfanatismus der Kinderarmut die Geldmittel aus Unterstützung oft höher als man durch Arbeit erhalten kann. Bei vielen Familien soll die Familienplanung schon gezielt auf die die Unterstützung ausgerichtet sein.

 

So wird der Kinderwunsch nicht bestimmt durch die Freude über das Kind sondern wesentlich durch die Aussicht auf weitere finanzielle Unterstützung. Wie bei allen diesen finanziell orientierten Modellen hilft das Geld nicht den Kindern sondern den Eltern, denn diese bestimmen über deren Verwendung.

 

Somit wird durch die Erhöhung der finanziellen Direktzuwendungen die gesellschaftliche Schieflage nicht verbessert sondern verschlechtert. Die Eltern, die nur auf das Geld aus sind, werden eher diese Mittel nicht für eine bessere Förderung der Kinder ausgeben, sondern so weitermachen wie bisher. Die Eltern, die ohnehin über genug Kapital verfügen nehmen es als Mitnahmeeffekt.

 

Nicht verschärfte Gesetze, härtere Strafen oder schärfere andere Sanktionen helfen hier weiter, denn wo soll das Ganze enden? Spätestens, wenn der Erste die Todesstrafe fordert, werden wir merken, dass wir am Ende der Hoffnung und der Lösungen angekommen sind. Den Jugendlichen fehlt es von klein auf an sozialen Perspektiven, an Einsicht in die Folgen ihres eigenen Handelns und an Scham über schädliches Verhalten. Von ihnen Reue zu erwarten wäre naiv. Sie haben es nie gelernt, wir haben es ihnen nicht beigebracht und wir haben sie sich selbst überlassen.

 

Was wirklich helfen würde, wären Hortangebote wie in Frankreich üblich, Kinderkrippen, Ganztagsangebote und frühzeitige Schulungen der sprachlichen und sozialen Entwicklung, die sonst untergehen. Wir benötigen Netzwerke aus Professionellen und Engagierten besonders in den betroffenen Vierteln. Bewohner, Lehrer, Eltern, Sozialarbeiter und sonstige Aktivisten müssen zusammenarbeiten und aktiv werden. Das benötigt Geldmittel für diesen Zweck und nicht für weitere Präventivmaßnahmen, die nur kurzfristig wirken, wenn überhaupt. Beispielsweise ist der Etat in Belgien für solche Maßnahmen mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Das wird und ist nicht leicht aber geht und bedarf geschulter Kräfte. Investitionen hierfür sind notwendig und sind Investitionen für die Zukunft. Das ist politisch und wahlkampfmäßig betrachtet wahrscheinlich das Problem.

 

Zum Thema Kindererziehung bietet die Autorin Jessica Thomas ein kostenloses E-Book auf http://www.bambiona.de/thema/kindererziehung zum Download an.